THOMAS JUDISCH – HEUTE WAR GESTERN

Der Künstler Thomas Judisch (*1981) realisiert sein über zwei Jahre hinweg geplantes Skulpturenprojekt in der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin mit Unterstützung der Leinemann-Stiftung für Bildung und Kunst.
Am 15.09.2014 werden um 19 Uhr die ersten drei Skulpturen dieser neuen Werkreihe in der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin (Sophie-Charlotten-Straße 17–18, 14059 Berlin) präsentiert.

Kristin Danger M.A. – heute war gestern (Auszug)
In einem Museum betritt ein Besucher einen Ausstellungsraum mit Arbeiten des Künstlers Thomas Judisch: Zwei flache Fundamente, auf denen sich jeweils seitlich ein Objekt befindet. Der Besucher umkreist diese so genannten Plinthen und tastet mit seinen Blicken die einzig sichtlichen Objekte ab. Zu sehen ist zum einen ein Baumstamm, an dem sich eine Schlange emporwindet, und zum anderen eine Amphore mit drapiertem Tuch. Material und Farbe erinnern an antike Skulpturen, deren Erscheinung in Gestalt von weißem Marmor sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Der Betrachter ist irritiert, da ganz offensichtlich Etwas fehlt: Wo sind die Figuren, die sich sonst auf derartigen Plinthen befinden?
Thomas Judisch hat die Skulpturen nicht nur sprichwörtlich vom Sockel geholt: Die Stützen und Plinthen, die er dem Betrachter anbietet, sind Abgüsse von römischen Marmorskulpturen, der Apoll von Belvedere (um 320 v. Chr.) und die Kapitolinsche Venus (3.–2. Jh. v. Chr.), die wiederum Kopien von griechischen Bronzeplastiken sind. Folglich verweist Judisch mit seinem Angebot an den Betrachter – welches nur aus Stütze und Plinthe besteht – auf eine Kopie, die auf ein Original verweist, was aber nur durch die Kopie erhalten ist.
Mit Hilfe der Stütze soll das Bild einer Skulptur vor dem inneren Auge des Betrachters entstehen. Die Skulptur, auf die verwiesen wird, besaß diese Stütze jedoch ursprünglich gar nicht. Die zusätzliche Stütze, die durch die Tätigkeit der Kopisten hinzugefügt wurde, ist aber durch den Kanon der Bildbetrachtung zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Skulpturen selbst geworden und hat sich so im Bildgedächtnis der Menschen festgesetzt.
Der Materialwechsel von Bronzeplastik (Original) zu Marmorskulptur (Kopie) wird durch Thomas Judisch, der nicht etwas hinzufügt, sondern – ganz im Gegenteil – das Subjekt weglässt, durch eine zusätzliche Ebene erweitert: Entgegen der üblichen Abgüsse von antiken Skulpturen aus Gips, bestehen seine Abgüsse der Stützen und Plinthen aus Acrystal; einem Kompositwerkstoff, der aus einer Flüssigkeit aus Acrylharz auf Wasserbasis und einem Pulver aus Mineralkristallen mit Steinpartikeln besteht. Diese speziellen Kristalle verleihen den Oberflächen ein Aussehen wie weißer Marmor.
Die Bedeutung der Wahl des Materials wird an folgendem Ausschnitt eines Briefes von Johann Wolfgang von Goethe an Charlotte von Stein (vom 20./23. Dez. 1768) deutlich: „Von gewißen Gegenständen kann man sich gar keinen Begriff machen ohne sie gesehen, in Marmor gesehen zu haben, der Apoll von Belvedere übersteigt alles denckbare, und der höchste Hauch des lebendigen, jünglingsfreyen, ewigjungen Wesens verschwindet gleich im besten Gypsabguß.“ Dieses Zitat ist zusätzlich interessant, da Goethe einerseits den Apoll von Belvedere für ein römisches Original hielt und andererseits dessen Erscheinung in weißem Marmorglanz als das höchste Ideal verstand.
Marmor und Acrystal gleichen sich im Aussehen, unterscheiden sich aber inhaltlich – das von Judisch gewählte Material sieht aus wie der antike Marmor, besteht aber aus einem modernen Stoff der heutigen Zeit. Ebenso wie die Stütze selbst, spielt somit auch das gewählte Material Acrystal mit Denkmustern und tradierten Betrachtungsformen, da „weißer Marmor“ erneut an antike Skulpturen denken lässt, deren heutige Erscheinung in weißem Glanz sich – entgegen des polychromen Ursprungs – in unser kollektives Bildgedächtnis eingeprägt hat und die wir dadurch fälschlicherweise für gesetzt ansehen.
Junker/Stähli stellen in ihrem Werk Original und Kopie. Formen und Konzepte der Nachahmung in der antiken Kunst hinsichtlich der Kopienkritik römischer und griechischer Skulpturen die These auf, „dass die Wertigkeit des Originals in seiner Entstehungszeit irrelevant sein kann und es seine Verwertung allein der inhaltlichen Bedeutung, die es im historischen Kontext des Rezipienten gewinnt, verdankt. Nicht die Wertschätzung eines auratischen Originals gibt somit den Anstoß zur nachahmenden Verarbeitung, sondern das Bedürfnis, bestimmte Motive unabhängig vom Rang des Originals zu verwerten und in einem neuen kulturellen Kontext zur Wirkung zu bringen.“
Dieser Vorgehensweise bedient sich Thomas Judisch in seinen Arbeiten und überträgt diese auf die heutige Zeit. Es geht ihm um das Spiel mit den verschiedenen Formen von Reproduktion/Imitation/Kopie/Original und deren Bewertung. Neben diesen Fragestellungen innerhalb der zeitgenössischen Kunst greift Judisch auch die Diskussion innerhalb der Klassischen Archäologie auf, nach welchen Kriterien ein Werk als Kopie eines Originals bestimmt werden kann und mit welcher Genauigkeit die römischen Kopien überhaupt die verlorenen griechischen Originale überliefern können?
Dadurch, dass Thomas Judisch keine beliebigen Skulpturen für die Abgüsse ausgesucht hat, sondern Skulpturen mit Vorbildfunktion für die spätere Kunstgeschichtsschreibung, wird implizit die Frage nach einem Kanon und der Verankerung von Bildgedächtnis und Formenvokabular in unserer heutigen Gesellschaft gestellt. Mutig reiht sich der Künstler in diese Entwicklung ein und fragt, was am Ende bleibt?!

http://thomasjudisch.com